Heiko Häselbarth, Februar 1991


Büchners "Lenz" und Hauptmanns "Bahnwärter Thiel", Entsprechungen und Unterschiede.


In der 1887 entstandenen novellistischen Studie "Bahnwärter Thiel" erzählt Gerhart Hauptmann etwas mehr als zehn Jahre aus dem Leben eines Bahnwärters.

Im ersten Teil der Studie erfährt der Leser, daß Thiels erste Frau Minna verstorben ist. Sie hat ihm den Säugling Tobias zurückgelassen. Thiel heiratet erneut, da er sich nicht in der Lage sieht, seinen ohnehin schwächlichen Sohn alleine zu versorgen. Aus dieser zweiten Ehe geht ein zweiter Sohn hervor. Seine zweite Frau Lene ist ihrem Äußeren und ihrem Wesen nach das genaue Gegenteil von Minna, und Thiel lebt mit ihr in einer sehr gespannten Beziehung. Dies rührt unter anderem auch daher, daß Thiel, der als gutmütig, ordnungsliebend und phlegmatisch beschrieben wird, von Lenes sexueller Kraft abhängig wird. Es wird der Balanceakt beschrieben, mit dem Thiel zwischen den beiden Polen seiner Existenz vermittelt: indem er die Zeit der Berufsarbeit ausschließlich dem Gedenken Minnas widmet, schafft er sich das notwendige Gegengewicht zur triebhaften Bindung an Lene, die die andere Hälfte des Tages ausfüllt. Indem Thiel so die Vergangenheit und Gegenwart, die geliebte und die begehrte Frau auseinanderhält, versucht er die moralische Würde und Identität seiner Person zu wahren. Die zeitliche Trennung ist zugleich eine räumliche. Thiel erklärt sein Wärterhäuschen und die Bahnstrecke insgeheim für geheiligtes Land. Vom Ort seines Familienlebens ist diese Minna- Sphäre durch einen Fluß und einen langen Wanderweg getrennt.

Im zweiten Abschnitt folgen ausgedehntere Schilderungen des Tagesablaufs im Hause Thiels; so wird erzählt, wie Thiel, der überraschend nach Hause zurückkehrt, miterleben muß, wie Lene seinen geliebten Tobias züchtigt. Thiel ist in seinem Innern erschüttert, setzt sich aber nicht zur Wehr, weil Lenes sexuelle Ausstrahlung zu stark ist. Wortlos macht er sich wieder auf den Weg zu seiner Arbeitsstelle mitten im Wald. Erwähnt wird in diesem Abschnitt auch der Erwerb eines Ackers, der in unmittelbarer Nähe des Bahnwärterhäuschens liegt und der im dritten Kapitel zum Ort der Katastrophe wird.

Im dritten Abschnitt brechen Selbstzweifel und Schuldgefühle in Thiel abrupt auf. Er sucht Zuflucht in Visionen, in denen ihm seine erste Frau Minna als Mahnende erscheint. Thiel flüchtet sich mehr und mehr in die Erinnerung an die Verstorbene, die sich zu einem Kult auswächst, je weniger er sich in seiner zweiten Ehe zurechtfindet. Ohne jeglichen Bezug zum gesellschaftlichen Leben, der über pünktliche Erfüllung seiner untergeordneten Aufgaben hinausginge, ohne bewußtes Leben überhaupt, muß der Bahnwärter zur Befriedigung seiner seelischen Bedürfnisse, seiner Sehnsucht nach Liebe und Güte, in den Bereich des Mystischen ausweichen, um seinen elenden Zustand und darüber hinaus sein stupides Leben auszugleichen. Ein scheinbar äußerlicher Umstand bringt das künstliche Gebäude zum Einsturz. Die Katastrophe ist in dem Moment unabwendbar, da das mühsam aufrechterhaltene, immer bedrohte Gleichgewicht zwischen dem realen Leben und den Traumvorstellungen gestört wird. Zum Unglück kommt es, als Lene mit den beiden Kindern Thiel begleitet, um den Kartoffelacker zu bestellen. Dieses Ereignis hebt die Trennung zwischen den Räumen auf, führt Lene in die dem Andenken Minnas vorbehaltene Sphäre des Bahnwärterdienstes. Infolge der Unachtsamkeit Lenes wird Tobias vom Zug überfahren. Thiel verfällt in Wahnsinn. Der weitere Handlungsablauf erscheint als unabwendbar. Thiel bringt Lene und seinen zweiten Sohn um und wird in die Irrenanstalt eingewiesen.

Betrachtet man die Handlungslinie und erzählerische Gestaltung, dann fällt auf, daß die eigentlichen Handlungshöhepunkte, auf die hin erzählt wird, der Tod des Tobias, die Mordtat Thiels und seine Einweisung in die Irrenanstalt, keineswegs die erzählerischen Gipfel bilden, sondern nur als das konsequente Ende eines vorher angelegten zwangsläufigen Prozesses und wie beiläufig erzählenswert erscheinen.

Wie in Georg Büchners "Lenz", so werden auch in Gerhart Hauptmanns "Bahnwärter Thiel" für die Aussageabsicht Naturbeschreibungen eingesetzt. Hier vor allem in Verbindung mit der Technik. Es wird zwei Mal das Vorbeifahren eines Zuges in Verbindung mit Naturereignissen beschrieben. Thiel erfährt den Zug als ein geradezu dämonisches Wesen, dessen Ungeheuerlichkeit, bestehend vor allem in Fülle und Intensität der Bewegungsabläufe, das erste Mal akustisch, das zweite Mal dagegen als eine dominierend optische Erscheinung erlebt wird. Die Personifizierung der Technik verleiht ihr dämonische Züge.

"Der Wind hatte sich erhoben und trieb leise Wellen den Waldrand hinunter und in die Ferne hinein. Aus den Telegraphenstangen, die die Strecke begleiteten, tönten summende Akkorde. Auf den Drähten, die sich wie das Gewebe einer Riesenspinne von Stange zu Stange fortrankten, klebten in dichten Reihen Scharen zwitschernder Vögel. Ein Specht flog lachend über Thiels Kopf weg, ohne daß er eines Blickes gewürdigt wurde. Die Sonne, welche soeben unter dem Rande mächtiger Wolken herabhing, um in das schwarzgrüne Wipfelmeer zu versinken, goß Ströme von Purpur über den Forst. Die Säulenarkaden der Kiefernstämme jenseits des Dammes entzündeten sich gleichsam von innen heraus und glühten wie Eisen. Auch die Gleise begannen zu glühen, feurigen Schlangen gleich, aber sie erloschen zuerst; und nun stieg die Glut langsam vom Erdboden in die Höhe, erst die Schäfte der Kiefern, weiter den größten Teil ihrer Kronen in kaltem Verwesungslichte zurücklassend, zuletzt nur noch den äußeren Rand der Wipfel mit einem rötlichen Schimmer streifend. Lautlos und feierlich vollzog sich das erhabene Schauspiel. Der Wärter stand noch immer regungslos an der Barriere. Endlich trat er einen Schritt vor. Ein dunkler Punkt am Horizonte, da wo die Gleise sich trafen, vergrößerte sich. Von Sekunde zu Sekunde wachsend, schien er doch auf einer Stelle zu stehen. Plötzlich bekam er Bewegung und näherte sich. Durch die Gleise ging ein Vibrieren und Summen, ein rhythmisches Geklirr, ein dumpfes Getöse, das, lauter und lauter werdend, zuletzt den Hufschlägen eines heranbrausenden Reitergeschwaders nicht unähnlich war. Ein Keuchen und Brausen schwoll stoßweise fernher durch die Luft. Dann plötzlich zerriß die Stille. Ein rasendes Tosen und Toben erfüllte den Raum, die Gleise bogen sich, die Erde zitterte - ein starker Luftdruck - eine Wolke von Staub, Dampf und Qualm, und das schwarze, schnaubende Ungetüm war vorüber. So wie sie anwuchsen, starben nach und nach die Geräusche. Der Dunst verzog sich. Zum Punkte eingeschrumpft, schwand der Zug in der Ferne, und das alte heil'ge Schweigen schlug über dem Waldwinkel zusammen."

"Da er glaubte, das Signal überhört zu haben, begab er sich, so schnell als Sturm und Dunkelheit erlaubten, nach der Barriere. Als er noch damit beschäftigt war, diese zu schließen, erklang die Signalglocke. Der Wind zerriß ihre Töne und warf sie nach allen Richtungen auseinander. Die Kiefern bogen sich und rieben unheimlich knarrend und quietschend ihre Zweige aneinander. Einen Augenblick wurde der Mond sichtbar, wie er gleich einer blaßgoldnen Schale zwischen den Wolken lag. In seinem Lichte sah man das Wühlen des Windes in den schwarzen Kronen der Kiefern. Die Blattgehänge der Birken am Bahndamm wehten und flatterten wie gespenstige Roßschweife. Darunter lagen die Linien der Gleise, welche, vor Nässe glänzend, das blasse Mondlicht in einzelnen Flecken aufsaugten. Zwei rote runde Lichter durchdrangen wie die Glotzaugen eines riesigen Ungetüms die Dunkelheit. Ein blutiger Schein ging vor ihnen her, der die Regentropfen in seinem Bereich in Blutstropfen verwandelte. Es war, als fiele ein Blutregen vom Himmel. Thiel fühlte ein Grauen und, je näher der Zug kam, eine um so größere Angst; Traum und Wirklichkeit verschmolzen ihm in eins. Noch immer sah er das wandernde Weib auf den Schienen, und seine Hand irrte nach der Patronentasche, als habe er die Absicht, den rasenden Zug zum Stehen zu bringen. Zum Glück war es zu spät, denn schon flirrte es vor Thiels Augen von Lichtern, und der Zug raste vorüber."

Mit der Beschreibung der Technik stehen Beschreibungen der Natur in enger Beziehung. Natur im Einflußbereich der Technik hat ihren romantischen Reiz verloren. Natur strahlt zwar Erhabenheit aus, aber das Ineinander von Natur und Bahnstrecke geben der Natur Eigendynamik, lassen die Technik als belebte Materie erscheinen, beto