Heiko Häselbarth, November 1993


Theodor Storm's Novelle "Hans und Heinz Kirch"


Einführung

Zur Novelle

Authentischer Hintergrund

Literaturnachweis


Einführung

Storms weltanschaulich-künstlerische Entwicklung nach 1870 ist von einer tiefempfundenen Enttäuschung über eine Entwicklung, die die Kluft zwischen Individuum und Gesellschaft, humanistischen Postulat und kunstfeindlicher Realität augenscheinlich machte, geprägt. Dies machte sich in einer fortschreitenden weltanschaulichen Desillisionierung und gesellschaftlichen Ausgliederung bemerkbar. Seine auf die Befreiung des Geistes von konventionell-religiösen Dogmen bedachte Haltung, sein Wille zu humanistischer Lebensbehauptung verbanden sich nun mit einem schon determenistisch gefärbten Bewußtsein des Ausgeliefertseins, einer ernüchterten Überzeugung, daß alles Kreatürliche an grausame Daseinsgesetze gebunden sei. Der für Storm unaufhebbare Widerspruch einer aufs subjektiv-poetische Welterleben gegründeten, emotional intensivierten Lebensbejahung und der angstvollen Empfindung einer anonymen Bedrohung des humanistischen, poesiefähigen Daseinsbereich prägte sich seinem Weltbild ein und wurde zum Spannungsfeld seines Dichtens. Die eigentümliche Verbindung von poetischer Stimmungsentfaltung und partieller gesellschaftlicher Konfliktaufnahme, die Spannung von Ideal und Illusionszerstörung mußte für den Humanitätsanspruch wie für den Wirklichkeitsgehalt von Storms Spätwerk Konsequenzen haben. Die Steigerung poetischer Aussagekraft erfolgte bei gleichzeitigem Infragestellen der Verwirklichungsmöglichkeit humanistischer Maximen. So tragen manche seiner vereinsamten und als Gegenentwurf zur bedrohend empfundenen zeitgenössischen Realität gestalteten Helden naturhaft ungebärdige, ausgeprägt individualistische, zuweilen grausame Züge.

Die in die vereinzelte Existenz verwiesene Bewahrung humanistischer Idealität erforderte andererseits einen poetischen Entfaltungsraum, den Storm annähernd nur in kleinstädtisch-dörflicher Abgeschiedenheit, am beispielhaftesten in phantasieerfüllter Vergangenheit fand - in Territorien, die die zerstörerischen gesellschaftlichen Kräfte nur symbolhaft angedeutet ins Bild nehmen konnten. Das Ausweichen in beide Richtungen, in provinzielle und historische Räume, war bedingt durch das Bemühen, die ihm gemäße Form der Poesie zu bewahren. Es bedeutete - abgesehen von krisenhaften Rückgriffen in persönliche Erinnerungen - keine Flucht vor den Problemen der Gegenwart. Das wird an der tragischen Zuspitzung gesellschaftlich motivierter Konflikte deutlich, die in Storms späten Novellen mit tragödienhafter Konsequenz ausgetragen werden.

Die Bindung seines poetischen Humanitätsanspruchs an reale gesellschaftliche Sachverhalte war für Storm gemäß der ihm eigenen Realitätserfahrung und erzählerischen Begabung nur in novellistischer Form darstellbar: im stilisierten, symbolisch überhöhten Einzelfall. Das zwang ihn - in Weiterentwicklung der Novellenpraxis der Heiligenstädter Zeit - zu härterer Konfliktzuspitzung, dramatischer Straffung und führte zu Plastizität und Geschlossenheit der Form.

Seit Anfang der siebziger Jahre lebte Storm fast gänzlich zurückgezogen vom öffentlichen Leben. 1881 bezog er - vorzeitig in Ruhestand getreten - mit seiner Familie seine "Altersvilla" im holsteinischen Hademarschen. Mit der Welt außerhalb seines Dorfes verband ihn bis zu seinem Tode hauptsächlich ein umfangreicher Briefwechsel.


Zur Novelle

Natürlicherweise rückten im Zusammenhang mit Storms Grundproblematik in den 80er Jahren Fragen nach dem, was nach dem Tode vom einzelnen Menschen bleibt, in den Vordergrund und damit verstärkt die Generationsproblematik, aber auch die Beziehungen des einzelnen zu dem Geschaffenen, zu seinem Werk. In einigen Novellen nun wird Storm durch sein Grübeln über Sinn und Sinnverlust des menschlichen Daseins dazu geführt, die von der Gesellschaft gebotenen Wert- und Zielvorstellungen genauer zu überprüfen, das heißt, er bezieht die Arbeit und die gesellschaftliche Stellung, die man durch jene erwerben kann, in seine Überlegungen mit ein, wodurch seine Figuren in ein komplexeres Widerspruchsfeld gestellt werden, damit aber auch an Individualität und Tiefe gewinnen.

Die Verschränkung elementarer menschlicher Beziehungen mit gesellschaftlichen Normen, mit einem frühbürgerlichen Aufstiegs- und Besitzdenken zum Beispiel, gelang ihm erstmalig in großartiger Weise in der Novelle "Hans und Heinz Kirch". Sie entstand 1882. Der kleine Schiffseigentümer Hans Kirch ist vom Ehrgeiz besessen, durch harte Arbeit vorwärtszukommen. Doch gerade sein Einsatz für die soziale Geborgenheit seiner Familie führt zu einer seelischen Verhärtung, einem engstirnigen Besitzdenken, das seine Menschlichkeit verdeckt und seine Familie zerstört. Hans Kirch verkörpert bestimmte gesellschaftliche Normen in höchstem Maße. Er hat sich vollständig auf ein allgemein anerkanntes Lebensprogramm eingeschworen: "Schiffsjunge, Kapitän auf einem Familien-, auf einem eigenen Schiffe, dann mit etwa vierzig Jahren Reeder und bald Senator in der Vaterstadt, so lautet der Stufengang der bürgerlichen Ehren." Der Kampf um den Aufstieg,  in dem es um Besitzvermehrung und um bürgerliche Ehrenämter geht, fordert von Hans Kirch rationellste Tageseinteilung, höchste Sparsamkeit, eine gleichsam asketische Lebensführung. Die bedingungslose Unterordnung des Lebens unter die Anforderungen einer bürgerlichen Karriere bedeutet eine enorme menschliche Verarmung. Nicht allein, daß Hans Kirch äußerst gehemmt in seinen Gefühlsäußerungen wirkt, er kann auch die nächsten Angehörigen, voran den Sohn Heinz, nur als Mittel für seinen Aufstieg begreifen. Er ist nicht in der Lage, ihn als selbständige Persönlichkeit mit eigenen Lebensansprüchen zu verstehen und zu  lieben. Als von seinem Sohn, der als Matrose zur See fährt, nach mehreren Jahren Schweigens endlich ein Brief eintrifft, schickt ihn Hans Kirch ungeöffnet zurück, da er nicht frankiert wurde. Die offensichtliche Notlage seines Sohnes widerspricht seinen ehrgeizigen Träumen von einem Sohn, der mit ihm im Schifferstuhl der heimischen Kirche sitzt, herausgehoben aus der Masse derer, die keine Schiffseigner sind. Im nun schon verzweifelten Festhalten an seinem Lebensziel verstößt er den Sohn noch ein zweites Mal, als dieser nach Jahren, heruntergekommen an Leib und Seele, in die Heimat zurückkehrt. Lieber will er an den Tod des Sohnes glauben bzw. die Schuld des Verrates auf sich ziehen, als dieses "Zerrbild" seiner Hoffnungen zu akzeptieren.

Hans Kirch umgibt in all seinem Streben, in seinem Zorn und Schmerz eine tiefe Einsamkeit, die man nun bei fast allen herausragenden Figuren Storms bemerken kann, jeder Mensch erscheint für sich als eine abgeschlossene Welt. Bei dieser Lebensstrategie besteht die Notwendigkeit, sich selbst zu behaupten, autonom zu sein in hohem Grade, so daß letztlich eine übersteigerte Ichbezogenheit befördert wird,in der der andere immer nur als Gegner begriffen werden kann, gegen den es sich durchzusetzen gilt. Nur den Frauen gelingt es manchmal, die selbstgeschaffene Einsamkeit dieser Männer zu durchbrechen. Die kleine Wieb, deren Lebensglück durch den alten Kirch genauso zerstört wurde wie das ihres Jugendgeliebten Heinz, vermag in dem gramgebeugten Hans Kirch allein den leidenden Vater zu sehen, zu dem sie ein tiefes, fast mütterliches Erbarmen erfaßt, welches keine äußeren Zwecke kennt.



Authentischer Hintergrund

Die Novelle geht auf eine wahre Begebenheit zurück, von der Storm während eines Aufenthaltes bei seiner Tochter Liesbeth in Heiligenhafen (Herbst 1881) erfuhr. Nach seiner Rückkehr aus Heiligenhafen begann Storm mit der Niederschrift der Novelle. Am 27. Februar 1882 ging das Manuskript an den Verlag ab. Der ursprüngliche Titel lautete "Hans Kirch und Heinz". Im Oktober 1882 wurde dann die Novelle in "Westermanns Illustrierten Deutschen Monatsheften" zum ersten Male gedruckt. Ein Jahr später erschienen zwei Buchausgaben bei Gebr. Paetel, Berlin: "Zwei Novellen" (zusammen mit "Schweigen") und ein Einzeldruck.

Ein Zusammenhang kann auch zwischen der Novelle und Storms ältesten Sohn, Hans, gesehen werden. Alle bescheidenen Familienfreuden vermochten nicht die quälenden Ängste um diesen Sohn aufzuwiegen. Es ist erschütternd zu verfolgen, wie Storm über 1 1/2 Jahrzehnte um seinen Sohn gerungen, wie er durch ihn gelitten hat und wie sie aber wohl beide einander zum Schicksal wurden. Leider vernichtete Storm sehr viele Briefe seines Sohnes auf dessen eigenen Wunsch. Storm schrieb an Ludwig Pietsch im Oktober 1874 die Sätze: "...an der Sorge um ihn gehe ich körperlich zugrunde. Ich bin in allem übrigen eine elastische Natur und werde von meinen Nächsten oft deshalb bewundert. Aber das ist meine Archillesferse." Ob Hans durch eine auch beim Vater in abgeschwächter Form vorhandene Labilität nicht in der Lage war, sein Leben in die Hand zu nehmen, ob Storms Erziehung daran Anteil hatte und ob auch der Alkoholismus damit in Zusammenhang zu bringen ist, kann nicht nachgewiesen werden. Fest steht, daß der sonst vielseitig begabte junge Mann die Hilfe seines Vaters bei den geringsten Unternehmungen und Aufgaben benötigte. Als ein fast unüberwindliches Hindernis stellten sich ihm die medizinischen Examina dar. Zweimal machte sich Storm auf die beschwerliche Reise nach Würzburg, im August 1876 und Februar/März 1877, um Hans bei der Absolvierung der Prüfungen behilflich zu sein. Neue Hoffnungen wuchsen, nachdem sich Hans als Arzt in Heiligenhafen niederlassen konnte. Aber die periodisch auftretenden Anfälle von Trunksucht machten dann bald alles wieder zunichte. Storm beglich wiederholt mit beträchtlichem finanziellem Aufwand die Schulden seines Sohnes und unterstützte den unbehilflichen großen Jungen von über 30 Jahren bei seinem neuen Anstellungsversuch als Schiffsarzt. Aber Hans machte nur einige wenige Fahrten mit. Lange Zeit ohne Nachricht von seinem Sohn, schrieb Storm im Februar 1881 verzweifelt an Heyse: "Wo ist er nun, ist er beurlaubt, ist er entlassen und, nachdem der Rausch vorüber ein Bettler? ... Das Nagenste ist das Erbarmen mit dem armen Jungen selbst. Kann er dafür, daß einem solchen Quantum wahnsinniger Begierde in ihm ein solches Minimum von Kraft entgegensteht?"

Und immer wieder grübelt Storm über das Rätsel der Vererbung - war das, was seinem Sohn widerfuhr, auch eine "culpa patris"? Der Soziologe und Kulturhistoriker Ferdinand Tönnies, der in den 70er und 80er Jahren den Dichter häufig besuchte, schrieb darüber: "Ein Gespräch, das zwischen uns Männern, wenn wir allein waren, oft auflebte, betraf die Vererbung von Eigenschaften und ihre Bedeutung für das menschliche Leben, besonders die Vererbung von Eigenschaften des Willens oder sittlichen Eigenschaften. Immer wieder trat ihm die Betrachtung nahe, durch die Erfahrungen, die er an seinem geistreichen und gutherzigen ältesten Sohne gemacht hatte und noch erlebte. Er sah mit dem Auge des Dichters darin etwas, was dem antiken Schicksal entspreche."

Dies gehörte also zu dem dunklen Untergrund von Storms Leben - die Erlösung kam erst mit Hans' Tod im Dezember 1886. Da hatte er selbst nur noch 1 1/2 Jahre zu leben. Das Schicksal des Sohnes, und das damit aufs Engste verbundene Schicksal des Vaters, spiegelt sich auch in der Novelle "Carsten Curator" wieder. Der Zusammenhang zwischen der allgemeinen Enttäuschung Storms über die gesellschaftliche Entwicklung und dem familiären Schicksal, spiegelt sich in seinen späten Novellen wieder. Storm war in seinen letzten Lebensjahren kein glücklicher Mensch. Er grübelte sehr viel und war von einer tiefen Depression ergriffen. Seine, für diese Zeit typische, Stimmungslage, kommt besonders in der Novelle "Hans und Heinz Kirch" zum Ausdruck.


Literaturnachweis

Theodor Storm: "Sämtliche Werke", Novellen (1878 - 1885), Band 3,   Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1972, 3. Auflage.

Regina Fasold: "Theodor Storm", Bildbiographie, Bibliographisches Institut Leipzig, 1988, 1. Auflage.

"Geschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert", Vormärz bis Naturalismus, von einem Autorenkollektiv, Leitung und Gesamtbearbeitung Kurt Böttcher, Verlag - Volk und Wissen, 1987.