Heiko Häselbarth, 16.03.1992
Rollenbilder in den "Kinder- und Hausmärchen" der Brüder Grimm
2) Begriff und historische
Entwicklung des Märchens
3) Das Rollenverständnis der Kinderfiguren in den
Grimmschen Märchen
4) Das Rollenverständnis der Frauen und Mädchen in den
Grimmschen Märchen
5) Zusammenfassung
Keine andere literarische Form ist in der gleichen Weise Gegenstand der Hochschätzung geworden und keine der vergleichbaren epischen Kurzformen kann auch nur annäherungsweise das gleiche breite Interesse beanspruchen wie das Märchen. In der Kinderlektüre, sowie auch in der Jugend- und Erwachsenenlektüre nehmen Märchen einen festen Platz ein. Die besondere Anziehungskraft, die Märchen für Kinder besitzen, wird an späterer Stelle noch erläutert. Hier sei nur soviel gesagt, daß die Fiktionalität, die Einfachheit und damit die Überschaubarkeit des Märchens dem Kind die Möglichkeit gibt, seine Psyche zu entwickeln. Bruno Bettelheim hat dies in seinem Buch: "Kinder brauchen Märchen" weiter ausgeführt.
Ursprünglich sind Märchen nicht für Kinder, sondern für Erwachsene verfaßt worden. In der Anmerkung am Schluß der beiden Bände, der ersten Ausgabe der Grimmschen Märchen von 1812 und 1815, steht, daß diese eher für Wissenschaftler und am Volksgut interessierte Laien, als für Kinder aufgeschrieben wurden. Jacob Grimm schreibt in einem Brief an Achim von Arnim: "Das Märchenbuch ist mir daher gar nicht für Kinder geschrieben, aber es kommt ihnen recht erwünscht, und das freut mich sehr." Er sah anfänglich in den Märchen vor allem Quellen für seine germanistischen Forschungen und war daher versucht, sie möglichst unverfälscht zu erhalten. Wilhelm hingegen brachte Änderungen an, worin der Bruder schließlich einwilligte.
Bereits die zweite Auflage von 1819 wurde im Sinne der Kinder (mehr kindgerecht bzw. 'kindertümlich') verändert. Diese Züge wurden in den weiteren Auflagen noch verstärkt. Wilhelm Grimm folgte damit einer Tradition der Aufklärung, die Kindern erstmals eine spezielle Art von Literatur, darunter auch Märchen, zuwies. So läßt sich dann auch der Titel "Kinder- und Hausmärchen" erklären, den schon die erste Auflage trägt.
Durch die Veränderungen der Märchen bis zur heutigen Zeit, werden in ihnen Rollenbilder transportiert, die der jeweiligen Zeitauffassung gerecht werden.
Trotz der generellen und speziell wieder zeitgenössischen Hochkonjunktur sind die alten, immer wieder neu formulierten Einwände gegen das Märchen keineswegs verstummt : Das Märchen entfremde Kinder der Realität, es propagiere Grausamkeiten, es begünstige Vorurteile und es verletze das Kind in seiner geistig-seelischen Substanz. Kant hat als einer der ersten dem Märchen angelastet, es führe die Kinder in eine Welt der Täuschung ein; das "... Reich der Wahrheit ..." habe jedoch "... des Interessanten und Wunderbaren so viel, daß man nicht zu Märchen seine Zuflucht zu nehmen ..." brauche. Dieser Vorwurf wurde oft erneuert. Doch wie steht es nun gerade mit den Grausamkeiten im Märchen ? Es kommt im Märchen zur Aussetzung und zum mindesten zur geplanten Ermordung von Kindern, zur Mißhandlung und Verstümmelung von Kindern, zu grausamen Strafen und schrecklichen Todesarten für die Bösewichter. Nach Bettelheim sind diese Grausamkeiten, die zwar genannt aber niemals geschildert werden, gerade notwendig für die psychische Entwicklung des Kindes. Es war auch zu beobachten, daß eine Eliminierung der Grausamkeiten aus Märchentexten einen Verlust der Attraktivität dieser Märchen für Kinder nach sich zog.
Dennoch ist festzustellen, daß gerade Kinder, wenn sie in den Märchen der Brüder Grimm überhaupt als handelnde Personen auftreten, meist ein schweres Los erleiden. Hierbei fällt besonders der unbedingte Gehorsam, den sie ihren Eltern und anderen Erwachsenen gegenüber verpflichtet sind, auf. Setzt sich das Kind zur Wehr bzw. widersetzt es sich den Anweisungen oder Geboten der Erwachsenen, ist es meist schweren Strafen ausgeliefert, so zum Beispiel in "Das eigensinnige Kind", "Frau Trude" oder im "Marienkind" .
Auch bei ungerechter Behandlung sollen Kinder nicht auf sich selbst vertrauen, sondern geduldig darauf warten, daß sich das Gute durchsetzt. Hilfe erfolgt dann meist von Feen, Zauberern und anderen phantastischen Wesen. Im Jugendalter findet dann meist eine Loslösung von der Familie statt. Der Märchenheld geht seinen eigenen Weg und besteht Abenteuer, die meist glücklich enden. Auf dieser Ebene werden dann auch Maxime vermittelt, die durchaus positiven Charakter haben.
Auch das Bild der Frauen und Mädchen in den "Kinder- und Hausmärchen" entspricht durchaus der zu dieser Zeit herrschenden Meinung. Die Frau hatte den Ruhepol für den Mann darzustellen, welcher sich im weltlichen Getümmel bewegt. Um dies zu realisieren war es eine der höchsten Maxime für die Frau, schweigsam zu sein. Passivität ist damit allerdings nicht zu verbinden. Die Frau sollte den männlichen Held durchaus tatkräftig unterstützen. In einigen Märchen tritt sogar die Frau bzw. das Mädchen als Heldin auf und handelt völlig allein, so zum Beispiel in "Hänsel und Gretel" oder in "Die zwölf Brüder" oder in "Die sechs Schwäne". Das Bestreben lag vielmehr darin, daß Frauen keine Artikulationsmöglichkeit haben sollten, um ihre eigenen Interessen zu vertreten. Eine ihr vom männlichen Geschlecht zugedachte Rolle, auch im Vordergrund, konnte dies durchaus einschließen.
2) Begriff und historische Entwicklung des Märchens
Der Begriff des Märchens ist eine Verkleinerungsform zu 'Mär'. Mittelhochdeutsch ist das die 'maere' und bedeutet Kunde, Bericht oder Erzählung. Das Märchen ist also eine phantastische, realitätsüberhobene, variable Erzählung, deren Stoff aus mündlicher volkstümlicher Tradition stammt. Bei jeder mündlichen oder schriftlichen Realisierung kann dieser Stoff je nach Erzähltalent, Erzählintention oder stilistischem Anspruch anders gestaltet sein. Der Erzählkern, also Handlungsfolge, Figurenkonstellation und auch Bildsymbole, bleibt erhalten. So bleibt zum Beispiel, trotz unterschiedlicher schriftlicher Ausformung, die Dornenhecke im Märchen "Dornröschen" erhalten.
Von den Volksmärchen, welche auf volkstümliches, anonymes Erzählgut zurückgehen, unterscheiden sich die Kunstmärchen, welche einmalige Erfindungen und Fassungen namentlich bekannter Autoren sind.
Märchen gehören, neben Sagen, Legenden und Fabeln, zum ältesten literarischen Kulturgut, das die Überlieferung aufbewahrt hat. Bereits das 'Gilgamesch-Epos' (um 2000 v.Chr.) enthält Märchenmotive. Aus der Zeit um 1300 v.Chr. ist ein ägyptisches Zwei-Brüder-Märchen erhalten. Auch das Alte Testament beinhaltet zahlreiche Märchenstoffe. Es sei hier nur an die Joseph-Geschichte mit dem Motiv der treulosen Brüder, die den jüngsten beiseite schaffen wollen, oder an die Simson-Geschichte mit den Motiven Rätsellösung und magische Verbindung von Körperkraft und Haar erinnert.
Das Märchen selbst ist seit dem 15. Jahrhundert belegt. Eine erste überlieferte Märchensammlung stammt aus Italien. In ihr wird die Unterhaltungsfunktion der Märchen deutlich. Zugleich bestand aber auch in dieser Märchensammlung schon die Tendenz, das Märchen als Phantasieerzählung zu bewerten, welches besonders für Kinder geeignet sei. Die Ende des 17. Jahrhunderts erschienene französische Märchensammlung "Perraults" vereinigt dann ganz deutlich beide Tendenzen. Das Märchen dient hier der Unterhaltung, ist aber auch gleichzeitig Mittel zur Belehrung.
Im Sinne von Musäus, dessen "Volksmärchen der Deutschen" von Wieland im 18. Jahrhundert herausgegeben wurden, dienen Märchen zwar nicht der Wahrheit, aber sie entsprechen dem "Hang der menschlichen Seele zum Wunderbaren". Es wurde also schon im 18. Jahrhundert eine kontroverse Beurteilung des Märchens deutlich, was sich bis heute fortgesetzt hat. Auch die Aufklärung stand dem Märchen feindlich gegenüber. Märchen wurden hier als 'Lügengeschichten' abgetan, wobei diese Auffassung besonders von Kant vertreten wurde.
Eine Wende in der Beurteilung des Märchens als bloße Phantasieerzählung bewirkte Herder, der das Märchen als Form der Naturpoesie und damit als unverzichtbaren Besitz des Volksglaubens bezeichnete. Die Brüder Grimm knüpften an diese Theorie an. Für sie sind Märchen der Inbegriff der Poesie überhaupt und damit ein geeignetes Mittel, den kindlichen Geist zu bilden.
3) Das Rollenverständnis der Kinderfiguren in den Grimmschen
Märchen
Es gibt insgesamt zweihundert Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Schlüsselt man diese auf, so ergibt sich, daß in 51, also etwa einem Viertel, Kinderfiguren auftreten. Das Verhältnis von Knaben zu Mädchen ist ausgewogen. Nur drei Figuren bleiben ohne Geschlechtsbestimmung. Von den 51 Kinderfiguren erfüllen in nur 20 Märchen die Kinderfiguren für das Geschehen eine zentrale Funktion, während sie in den übrigen 31 lediglich eine periphere Rolle spielen. In den übrigen 149 Märchen, 26 davon sind Tiermärchen, werden Kinder nicht erwähnt. Auch wenn anfangs vielleicht von Kindern und Jugendlichen gesprochen wird, erfährt man bald, daß sie im weiteren Märchengeschehen als Erwachsene fungieren, wie zum Beispiel im "Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen", oder im "König Drosselbart". Auf die bei Volksmärchen übliche Ungenauigkeit ist es wahrscheinlich zurückzuführen, daß von den 51 als 'Kindermärchen' zu bezeichnenden Stücken nur zehn präzise Altersangaben enthalten. In den Märchen "Marienkind" und "Der starke Hans" wird durch wiederholte Hinweise auch der Wachstumsprozeß erwähnt, was allerdings als Ausnahme zu werten ist. Jedenfalls wird damit deutlich, daß hier der Zeitraum der Kindheit etwa vom zweiten bis spätestens 15. Lebensjahr reicht. Im allgemeinen lassen sich Lebensalter und Entwicklungsstand der kindlichen Märchengestalten nur aus dem Gebrauch der Verkleinerungsform und durch die Angabe von Attributen und Verhaltensspezifika erschließen.
Innerhalb der Merkmalkonstellation der Kinderfiguren kann man vier Kategorien ihrer Einschätzung unterscheiden :
ästhetische Kategorie : Charakterisierung durch äußere Erscheinung (schön oder häßlich, klein oder groß),
moralische Kategorie : spezifische Eigenschaften (böse, lieb, begierig, ungehorsam, gutartig, fromm, fleißig, faul, unartig, gehorsam, sittsam),
intellektuelle Kategorie : geistige Fähigkeiten (klug, gescheit, verständig, dumm),
soziale Kategorie : soziales Milieu (arm oder reich).
Trotz aller phantastischen Elemente des Märchens, steht es doch hinsichtlich seiner sozialen Wirklichkeitsschilderung keineswegs fern der Wirklichkeit. In der Darstellung des Kindes werden Verhaltenserwartungen deutlich, die die dem Erzähler vermittelten Werte widerspiegeln. Durch diese Verhaltenserwartungen wird eine fiktive soziale Welt geschaffen, innerhalb derer das Kind in ein Netz von Abhängigkeiten verwickelt ist. Mit diesen Abhängigkeiten sind die Kinder unlösbar mit ihrem Stand verbunden. Erst im Jugendalter besteht die Möglichkeit konfliktlos in eine andere soziale Schicht überzuwechseln. Im Stadium des 'Heldseins' kann dann der Sohn eines armen Mannes ohne weiteres eine Prinzessin heiraten, wie in "Die drei Schlangenblätter".
Die ständische Gesellschaftsordnung repräsentiert sich für das Kind in der Familie, die der primäre soziale Bezugsraum ist. Hier wird ein hierarchischer Aufbau sichtbar, dessen letztes Glied das Kind ist. Allerdings erfolgt in den Grimmschen Märchen nirgends die Darstellung einer intakten Familie. Konflikte innerhalb der Familie werden meist zum Anlaß genommen, daß das Kind bzw. der Jugendliche diese verläßt. Damit kommt es auch nicht zur Ausrichtung der Kinder zur Übernahme der elterlichen Funktionen, da das 'Kind' seinen eigenen Weg geht.
Innerhalb der Familie ist zu erkennen, daß sich beim Vater die erzieherischen Intentionen in praktischen Anweisungen und Befehlen erkennen lassen. Als Beispiel sei "Das Märchen vom Froschkönig" genannt. Die Königstochter muß sich hier dem Willen und der absoluten Autorität des Vaters unterordnen. Mit künstlerischen Mitteln wird die Gewichtigkeit der herrschaftlichen Macht betont. Die Tochter wird zu einer Handlung gezwungen, es wird ihr Unterwerfung abgefordert. Diese wird allerdings reich belohnt. Die vom König genannten Maxime ("Was du versprochen hast, daß mußt du auch halten..." und "Wer dir geholfen hat, als du in Not warst, den sollst du hernach nicht verachten.") wären jedoch nicht unbedingt negativ zu bewerten, wenn sie nicht ausschließlich auf ein Bestreben des Erwachsenen ausgerichtet wären.
Beim Verhältnis der Mutter zum Kind sind es mehr die gemüthaften Regungen, die zum Ausdruck gebracht werden. Im "Aschenputtel" zum Beispiel läßt die Liebe und Sorge sie selbst über den Tod hinaus ihrem Kind in Bedrängnis beistehen. Auch versucht die Mutter, soviel wie möglich von den auf das Kind zukommenden Lasten selbst zu tragen. Das Verhältnis der Stiefmutter zum Stiefkind hat dagegen völlig entgegengesetzten Charakter. Die Stiefmutter wälzt die Lasten auf das Stiefkind ab und schont sich, indem sie die Arbeitskraft des Stiefkindes ausnutzt. Sie schreckt vor keiner Gemeinheit und Quälerei zurück, um ihr eigenes Kind zu entlasten und ihm alle nur möglichen Vorteile zu verschaffen. Als Beispiel ist auch hier das Märchen "Aschenputtel" zu nennen.
Ein passives Verhalten der Märchenhelden überhaupt ist daraus allerdings nicht zu schlußfolgern. Märchenhelden sind nur selten passiv. Sie lösen sich vielmehr von Heimat und Elternhaus, gehen auf Wanderschaft und bestehen schwierige Abenteuer. Trotz schlechter Ausgangsposition sind sie meist mutig und optimistisch. Besonders deutlich wird dies in "Das tapfere Schneiderlein".
Die beiden polaren Schichten der Armen und Reichen repräsentieren im Märchen unterschiedliche Ansprüche und Erwartungen der Eltern gegenüber ihren Kindern. Als Reiche begegnen uns, gemäß der feudalen Gesellschaftsordnung, meist der König und seine Familie. In diesem Bereich werden bestimmte Maxime vom Kind gefordert. Nur Artigkeit führt hier zum Erfolg. Artigkeit im Sinne des Märchens bedeutet aber die bedingungslose Unterwerfung unter die Ziele der Erwachsenen und vertrauensvolle Hingabe in den Glauben an Fügung und Gerechtigkeit. Unartigkeit des Kindes hat Bestrafung und Ausstoßung zur Folge, wie zum Beispiel in "König Drosselbart".
Drei Viertel aller Kinderfiguren leben allerdings in armen Verhältnissen. Dort sehen die Erwartungen der Eltern gegenüber ihren Kindern ganz anders aus. Sie werden hier von ökonomischen Zwängen und Bedürfnissen, die das Leben der Eltern bestimmen, geprägt. Die Erwartungen laufen daraus hinaus, daß sich das Kind dem elterlichen Produktionsbereich einzuordnen habe und auf die Übernahme der elterlichen Funktionen ausgerichtet werden müsse. Das dies dann aber nicht geschieht, wurde schon erwähnt. Vielmehr wird oft dargestellt, daß Kinder, sind sie herangewachsen, ihren eigenen Weg gehen und somit entgegen allen elterlichen Erwartungen handeln.
Die Erwartungen der Eltern basieren auf der durch die Gesellschaftsstruktur bedingten Lebensform und auf den ihnen darin vermittelten Werten. Diese Werte sind durch eine Universalität gekennzeichnet, die über die eigentliche Rollenerwartung hinausgeht. Sie sind kulturspezifische Maßstäbe, an denen sich die Menschengruppen orientieren. Es besteht eine eindeutige Zielsetzung und ein hoher Grad an Selbstverständlichkeit, welcher durch den Grad der Bedeutsamkeit bestimmt ist. Somit ist es zum Beispiel selbstverständlich im Märchen, daß das Spielen für arme Kinder ein Luxus ist, den sich nur Kinder reicher Eltern erlauben können, obwohl vom Spielen selbst kaum gesprochen wird.
Weiterhin ist der absolute Gehorsam der Kinderfiguren den Eltern und anderen gegenüber als ungeschriebenes Gesetz in allen ständischen Schichten selbstverständlich. Als Beispiel sei hier das Märchen "Das Mädchen ohne Hände genannt", in dem die Tochter zum Vater sagt : "Lieber Vater, macht mit mir, was Ihr wollt, ich bin Euer Kind."
Arme Leute nehmen es meist ohne Widerspruch hin, daß sie hart für ihr tägliches Brot arbeiten müssen, während andere dies nicht tun. Da im Laufe der Handlung eine Erlösung aus diesem bedrückenden hierarchischen Milieu erfolgt, kann man die dargestellten Zwänge als ein künstlerisches Mittel bezeichnen, um besser zeigen zu können, wie alles am Ende gut wird. Allerdings sind diese 'Erlösungen' irrationaler Art. Meist kommt es auf eine sehr phantasievolle Weise zu einem guten Ende.
Durch den abstrakten und verfremdenden Stil des Märchens ist ein hoher Grad Fiktionalität gegeben. Schon vier- oder fünfjährige Kinder erkennen diese Fiktionalität. Dadurch wird für sie das Märchen durchschaubar. Hier liegt auch die hohe Anziehungskraft der Märchen für Kinder begründet. Märchen haben eine positive Wirkung auf die Verarbeitung von Aggressionen und Ängsten. Nach Bruno Bettelheim ist die Zuordnung zu Gut und Böse und die Ausmerzung des Bösen im Märchen notwendig, um das Chaos im Innern des Kindes zu ordnen und persönliche Sicherheit zu gewinnen. Das Kind projiziert seine inneren Ängste auf die negativen Figuren, welche dann durch die Kräfte des Guten, mit denen es sich identifizieren kann, vernichtet werden. Bettelheim strebt mit seiner These die Entkräftung des Vorwurf`s an, daß Märchen zu viele Grausamkeiten enthalten würden. Er ist der Meinung, daß das ästhetische Gebilde des Märchens gleichermaßen Identifikation wie Abstand ermöglicht.
Dennoch ist auch die Fiktionalität in Märchen mit der Realität und den zeitbedingten Vorstellungen ihrer Erzeuger vielfach verbunden, wodurch automatisch eine gewisse Rollenzuweisung gegeben ist.
4) Das Rollverständnis der Frauen und Mädchen in den Grimmschen Märchen
Obwohl die Brüder Grimm zum Teil auf sehr alte und außerdeutsche Märchentraditionen zurückgriffen, entstand durch die Übersetzung, Bearbeitung und Herausgabe ein neuer, für die Zeit typischer Text. Hierin spiegelt sich auch das Bild der Frau in dieser Zeit wieder, und welche Rolle ihr zugedacht war. Die Töchter bürgerlicher Familien hatten ihre Jugend vor allem damit zu verbringen, sich mit Handarbeiten und anderen häuslichen Beschäftigungen auf die spätere Ehe vorzubereiten. Diese antifeministische Auffassung und auf Rousseau zurückgehende Tradition von Mädchenerziehung vertraten auch andere Autoren. Tagebücher und Briefe aus der Zeit Mitte des 19. Jahrhunderts bezeugen, daß zum Beispiel Schweigsamkeit als positive weibliche Eigenschaft in allen sozialen Schichten gleichermaßen hochgeschätzt wurde. Auf diese auch in den Grimmschen Märchen vermittelte gewünschte Eigenschaft der Frauen und Mädchen möchte ich nun etwas näher eingehen.
Die 60iger und 70iger Jahre des 19. Jahrhunderts stellten den Höhepunkt in der Geltung des Ideals der schweigsamen Frau dar. In der Hochachtung des 'Schweigens' waren sich die Brüder Grimm mit vielen ihrer Zeitgenossen und Vorgängern einig. Das Bild der schweigsamen Frau und der schweigsamen Gelassenheit als hochgeschätzter weiblicher Charakterzug findet sich nicht nur in der Literatur, sondern auch in pädagogischen Theorien wieder und ist somit im 19. Jahrhundert fester Bestandteil des Alltagslebens geworden. Das 'Schweigen' zieht wie ein Leitmotiv durch die deutsche Literatur. Während Männer sich jedoch zumeist freiwillig in die Einsamkeit zurückziehen, ist die Schweigsamkeit der Frauen ein Teil ihres Charakters. Es kam zu der allgemein akzeptierten Annahme, daß Schweigen Männer für ein Leben voll Streben belohnte, jedoch für Frauen als anmutiges und dezentes Benehmen vorgeschrieben war. Diese Unterscheidung nach Geschlecht entspricht der Unterscheidung nach Macht, wie sie zu den meisten Zeiten herrschte. Ein besonders auffälliges Beispiel für 'erlaubtes' bzw. 'unerlaubtes' Sprechen findet sich im "Marienkind". Als das Kind abstreitet, eine verbotene Tür geöffnet zu haben, beraubt die Jungfrau Maria es seiner Sprache und verbannt das Mädchen aus dem Himmel. Nach vielen traurig verlebten einsamen Jahren in der Wildnis entdeckt es ein vorbeiziehender König und heiratet es. Die Stummheit des Mädchens macht es wehrlos gegen Anklagen des Kannibalismus, die ausgesprochen werden, als die Jungfrau als Strafe für sein widerspenstiges Leugnen nacheinander die Kinder des Mädchens wegholt. Als Hexe zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt, rettet es sich selbst im letzten Moment durch seinen plötzlichen, von den Flammen geschürten Wunsch, sein Vergehen zuzugeben.
In dem Märchen "Die Zwölf Brüder" muß die Schwester sieben Jahre lang in Schweigen verharren, um nicht den Tod ihrer Brüder zu verursachen. Auch dieses Mädchen steht nahe vor der Opferung. Sie ist bereits an den Scheiterhaufen gebunden, als ihre Brüder plötzlich erscheinen und sie retten.
Auch in "Die Sechs Schwäne" akzeptiert die Schwester die Bedingung, sechs Jahre lang zu schweigen, um ihre Brüder zu erlösen. Auch dieses Mädchen ist machtlos gegen die Welt. Ähnlich wie im "Marienkind" wird sie im letzten Augenblick von ihren Brüdern befreit.
Weitere Beispiele finden sich in "Aschenputtel" und "Allerleirauh". Beide Hauptpersonen verharren in strengem Schweigen und führen dadurch zahlreiche Verwicklungen herbei. Trotz dieser Verwicklungen soll das Schweigen als tugendhaft und nachahmenswert suggeriert werden. Sowohl Aschenputtel als auch Allerleirauh erscheinen uns in ihrer Schweigsamkeit sympathisch und annehmbar. Das Gute setzt sich durch, auch ohne zu sprechen.
Interessant ist es außerdem zu beobachten, wie die Sprache als Machtmittel in den Grimmschen Märchen Verwendung findet. Dies kommt besonders bei den Verwünschungen zum Ausdruck. Echte Verwünschungen gibt es nur wenige in den "Kinder- und Hausmärchen", aber diese werden in der überwältigenden Mehrzahl von weiblichen Gestalten ausgesprochen. Verwünschung wird hier als ein an natürliche Kräfte gerichteter Befehl verstanden. Diese gewissen Kräfte, die mit Hilfe der Sprache hervorgerufen werden können, sind in den Grimmschen Märchen Frauen zugeschrieben, was auf einen Glauben zurückführt, den Tacitus im ersten Jahrhundert n.Chr. germanischen Stämmen zuschrieb. Diese Kräfte erscheinen in Grimms "Kinder- und Hausmärchen" unter anderem in den Gestalten von Aschenputtel, Gretel, der Gänsemagd und dem Mädchen im "Märchen von der Unke". Der alte germanische Volksglaube an die weibliche Kraft über die Natur, welche durch Worte erreicht wird, wird hier bestätigt. Diese Kraft existiert in einigen Märchen als wesentlicher Teil der Handlung.
Wird denn aber nun insgesamt in den Grimmschen Märchen das Vorbild der Demut, des Gehorsams und der Passivität von Frauen und Mädchen vermittelt? Hierzu ist zu sagen, daß Frauen und Mädchen in den Märchen keineswegs passiv sind. Sie können zwar nicht gegen Riesen und Drachen kämpfen, sind aber klug, listig und ausdauernd. In "Aschenputtel" und "Schneewittchen" zum Beispiel handeln nur weibliche Figuren, gute und böse. Das männliche Geschlecht tritt hier nur in einer Nebenrolle in Gestalt des Prinzen auf. In "Hänsel und Gretel" übernimmt das Mädchen sogar die Rettung des Jungen. Auch in den Märchen, in denen das Mädchen schweigt, um ihre Brüder zu retten ("Die sechs Schwäne", "Die zwölf Brüder"), beweißt es doch Mut und Ausdauer.
Zum Schluß ist zu sagen, daß die Märchen der Brüder Grimm, durch zeitgemäße Veränderungen, wie jede andere Literatur auch, Rollenbilder vermitteln. Jede überlieferte Literatur ist von der Zeit, in der sie entstand und von der Zeit, in der sie modifiziert wurde, geprägt. Dadurch werden Auffassungen, Einstellungen und auch ein spezifisches Rollenverständnis in unsere heutige Zeit transportiert. Eine Betrachtung mit einem gewissen Abstand ist demnach erforderlich. Dies rechtfertigt jedoch nicht die grundsätzliche Ablehnung der Grimmschen Märchen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg ließ zum Beispiel die britische Militärregierung den Druck der Grimmschen Märchen verbieten, weil sie einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Grausamkeiten dort und den Greueltaten in den Konzentrationslagern zu sehen glaubte.
Entsprechung fand diese Methode auch in dem sowjetisch besetzten Gebiet Deutschlands. Hier wurden starke Abänderungen der Märchen verordnet. Zum Beispiel glaubte man einen Zusammenhang zwischen der Menschenverbrennung in den Konzentrationslagern und der Verbrennung der Hexe in dem Märchen "Hänsel und Gretel" zu sehen. Auch mit dem Märchen "Der Jude im Dorn" wurde eine Parallele zur NS-Zeit gezogen. Ich glaube, dies sind gute Beispiele für die zeitgemäße Einwirkung von Überzeugungen auf Literatur.
Es ist also noch heute erstrebenswert, die Ursprünglichkeit der Märchen wiederherzustellen, was allerdings bei den Kinder- und Hausmärchen kaum möglich ist, da diese schon von den Brüdern Grimm, ihrer Zeit entsprechend, stark modifiziert wurden.
Der psychologische Aspekt von Märchen ist keinesfalls zu
vernachlässigen und wiegt den Nachteil der Rollenbildvermittlung weitestgehend auf. Eine
einseitige Orientierung auf Märchen ist allerdings nicht zu empfehlen. Die heutige
Medienvielfalt und Realitätsverbundenheit läßt Märchen ohnehin nur einen geringen
Spielraum zur kindlichen Entwicklung. Trotzdem sich Märchen auch heute noch einer großen
Beliebtheit erfreuen, sind sie nur ein Teil, der auf das Kind einströmenden Einflüsse.
Eine Überbewertung des in ihnen vermittelten Rollenverständnisses ist also nicht
angebracht.
1) Haas, Gerhard (Hrsg.): "Kinder- und Jugendliteratur",
Ein Handbuch, dritte, völlig neu bearbeitete Auflage, Verlag Philipp Reclam jun.,
Stuttgart, 1984.
2) Doderer, Klaus: "Klassische Kinder- und
Jugendbücher", Kritische Betrachtungen, Verlag Julius Beltz, Weinheim / Berlin /
Basel, 1969.
3) Poser, Therese: "Das Volksmärchen - Theorie - Analyse -
Didaktik", in der Reihe: Analysen zur deutschen Sprache und Literatur, R. Oldenbourg
Verlag, München, 1980.
4) Schrader, M.: "Epische Kurzform - Theorie und
Didaktik", Scriptor-Verlag, 1980.
5) Emmrich, Christian: "Niemals ohne Beziehung auf das Leben.
Zur Märchenrezeption der Brüder Grimm", in :Beiträge zur Kinder- und
Jugendliteratur, Heft 83, S. 14 ff., Der Kinderbuchverlag, Berlin, 1987.
6) Wardetzky, Kristin: "Reizwort Märchen : Kinder zwischen
Tradition und Gegenwart", in : Beiträge zur Kinder- und Jugendliteratur, Heft 91, S.
13 ff., Der Kinderbuchverlag, Berlin, 1989.
7) Bottingheimer, Ruth B.: "'Still Gretel !' - Verstummte
Frauen in Grimms 'Kinder- und Hausmärchen'", in: Beiträge zur Kinder- und
Jugendliteratur, Heft 91, S. 28 ff., Der Kinderbuchverlag, Berlin, 1989.
8) "Kinder- und Hausmärchen", Gesammelt durch die Brüder Grimm, Aufbau - Verlag, Berlin, 1956.