Heiko Häselbarth, 15.07.1993


Vergleich unterschiedlicher Erklärungen für die Verursachung des Stotterns




1. Einleitung

2. Erklärungsmodelle zur Verursachung des Stotterns

2.1. Dysphemietheorien

2.2. Neurosetheorien

2.3. Lerntheorien

3. Vergleich der Modelle und komplexer Erklärungsversuch zur Verursachung des Stotterns

4. Zusammenfassung

5. Literaturverzeichnis


1. Einleitung

Die kurze einleitende Erläuterung zum Thema Stottern kann an dieser Stelle nur oberflächlich erfolgen. Viel wichtiger ist mir die Zuwendung zum eigentlichen Inhalt dieser Ausführungen. Nach einer Darstellung der aus historischer, wie gegenwärtiger Sicht wichtigsten Erklärungsmodelle zur Verursachung des Stotterns, will ich versuchen, diese in einen Vergleich miteinander zu setzen. Hierbei kann ich mich, aufgrund der vielfältigen Ansätze, nur den grundlegenden Positionen zuwenden und keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben.

Beim Stottern handelt es sich um eine Redeflußstörung bzw. um eine Störung des Sprechablaufs. Sie äußert sich darin, daß bereits der Beginn der Rede nicht gelingt oder der Redefluß durch krampfartige Wiederholungen einzelner Laute oder Silben oder durch pressendes Verharren in einer Artikulationsstellung unterbrochen wird. Hierbei sind Respiration und Phonation mitbetroffen.

Als Synonyme für das Stottern werden auch die Begriffe Dysphemie, Spasmophemie, Balbuties und Laloneurose verwendet. Schon in der Begriffsbildung sind sehr unterschiedliche Ansätze bei der Erklärung der Verursachung des Stotterns erkennbar.

Die Symptomatik ist nicht nur interpersonell, sondern auch intrapersonell und situativ verschieden. Somit handelt es sich beim Stottern um eine komplexe Erscheinung.

Der Stotterer versucht durch Flickwörter (Embolophrasien) die Störungen im Redefluß zu überbrücken. Weiterhin besteht das Bestreben, gefürchtete Laute durch Verwendung sinnverwandter Wörter, die mit einem für den Sprecher neutralen Laut beginnen, zu umgehen. Dadurch kann es zu einem ungewöhnlichen Satzbau kommen (dysphemischer Dysgrammatismus). Das Sprechen begleitende Mitbewegungen im Bereich der Mimik (primäre Mitbewegungen) und der Körpermotorik (sekundäre Mitbewegungen) können sehr auffällig werden. Somit ist meist der gesamte Kommunikationsprozeß nachhaltig gestört. Man geht heute davon aus, daß etwa 1% der Gesamtbevölkerung vorübergehend oder ständig von Stottern betroffen ist.

Das Stottern beginnt in den meisten Fällen in der frühen Kindheit (bis zum Alter von 8 Jahren ca. 90%). Somit stottern etwa 4% bis 5% aller Kinder während einer längeren Phase ihrer Entwicklung.

In Bezug zur geschlechtsspezifischen Verteilung berichten die meisten Untersuchungen von einer Überzahl der männlichen Stotternden im Verhältnis von etwa 4 : 1 gegenüber weiblichen Stotternden.

Da es sich um eine sehr vielschichtige Sprechstörung handelt, die unzählige Varianten aufweist, bereitet die Ursachenklärung sowie die Behandlung auch heute noch große Schwierigkeiten. Die Anzahl der wissenschaftlichen Arbeiten zu den Entstehungsbedingungen des Stotterns ist praktisch unüberschaubar geworden, womit auch eine Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Hypothesen besteht.

Die grundlegenden Erklärungsmodelle sollen hier kurz vorgestellt werden. Im Anschluß daran werde ich versuchen, eine übergreifende Position zur Verursachung des Stotterns darzustellen.


2. Erklärungsmodelle zur Verursachung des Stotterns

Bisherige Ansätze sind von einer spezifischen Sichtweise, der sich mit dem Problemkreis befassenden Fachdisziplinen, geprägt. Somit zeigen die Anschauungen über die Entstehung des Stotterns mindestens seit dem 19. Jahrhundert einen ständigen Wandel.

Grob zusammenfassend läßt sich sagen, daß die auf einem medizinischen Erklärungsmodell basierenden Aussagen die genetischen, somatischen und physiologischen Aspekte betonen, während die von einem pädagogisch/psychologischen Modell ausgehenden Richtungen die psycho-sozialen, umweltbedingten Faktoren in den Fordergrund stellen.


2.1. Dysphemietheorien

Der in Zürich ansässige Arzt Schultheß unterschied wohl als erster in seiner Schrift (1830) "Das Stammeln und das Stottern" und wies sie eindeutig zwei verschiedenen verbalen Kommunikationsstörungen zu. Er deutete das Stottern als "krampfhafte Affection der Muskeln der Stimmritzenbänder".

Dieffenbach glaubte 1841 das Stottern durch keilförmige Exzisionen aus der Zunge "heilen" zu können. Dies erwies sich jedoch als grundlegend falsche Behandlungsmethode.

Auch die frühere Ansicht, daß es sich beim Stottern in erster Linie um eine spastische Koordinationsneurose (Kussmaul) handelt, ist heute praktisch bedeutungslos.

Gegenwärtig bezeichnet man Theorien, welche das Stottern als Teilsymptom einer komplexen hirnorganischen bzw. konstitutionellen Funktionsstörung, z.T. auf erblicher Grundlage mit neurophysiologischen und biochemischen Veränderungen sehen, als Dysphemietheorien. Man geht hier von einer vererbten Disposition aus, wonach Stotternde häufiger stotternde Verwandte haben als Nichtstotternde. Weiterhin wurde festgestellt, daß bei eineiigen Zwillingen, falls es zum Stottern kommt, meist beide Kinder stottern, bei zweieiigen hingegen nur eins.

Den Dysphemietheorien liegen überwiegend medizinisch erhobene Daten zugrunde. Als Ursachen werden also neben der vererbten Disposition neurovegetative Dystonien, Stoffwechselstörungen, hormonale Veränderungen, minimale frühkindliche Hirnschädigungen, Beeinträchtigung der auditiven oder propriozeptiven Kontrollfunktionen u.a.m. angenommen.

Als Vertreter dieser Ansichten sind u.a. Arnold 1970, Beech und Fransella 1968, Goldiamond 1965, Hardcastle 1975, Seeman 1974, Sonderberg 1969, Scott/Ringel 1971 und Van Riper 1971 zu nennen.

Gegen diese Theorien sprechen die Unbeständigkeit des Stotterns sowie seine Abhängigkeit von der entsprechenden Situation, den Interaktionspartnern und der Bedeutung, die der Sprecher seiner Aussage zumißt.


2.2. Neurosetheorien

Vertreter dieser Theorien sind der Meinung, daß das Stottern Ausdruck eines psychoneurotischen Zustandes auf der Basis von verdrängten, unbewußten seelischen Konflikten aus der Zeit der frühen Kindheit ist. Eine differenziertere Unterscheidung erfolgt nach der jeweils zugrundegelegten Neurosenlehre.

So sah zum Beispiel Dührssen 1955 das Stottern als Ausdruck für eine Ambivalenz zwischen dem Impuls, etwas mitzuteilen und dem Gegenimpuls, es zu verschweigen.

Für Murphy und Fitzsimons (1960) war das Stottern durch die Angst aus einer gestörten Eltern-Kind-Beziehung verursacht.

Das unbewußte Zurückdrängen unerwünschter Gedanken und Gefühle, die mit der Thematik des Saugens, Essens, Ausscheidens und Untersuchens zu tun haben, waren für Travis (1957) vordergründig. Infolge einer frühen Trennungsangst, begünstigt durch overprotektives, ängstliches oder ambivalentes Verhalten der Mutter, können in der kindlichen Ich-Entwicklung unbewußte Ausdrucksbewegungen wie Beißen oder Saugen zurückgedrängt werden, worin Glauper (1958) das Stottern begründet sah.

Eine weitere neurotisch veranlagte Ursache kann in einer Lebenstechnik liegen, in welcher sich der Stotterer aus Furcht vor Unvollkommenheit den Anforderungen der Gemeinschaft entzieht (Adler 1931).

Hierbei ist also nicht zuletzt das jeweilige Selbstbild von entscheidender Bedeutung. Somit können an sich selbst gestellte Unter- und Überforderungen ausschlaggebend sein.

Werden Neurosen als Verursacher des Stotterns in den Fordergrund gestellt, so wird versucht, dies in Form von Einzel- und Gruppenuntersuchungen mit projektiven Testverfahren und Persönlichkeitsfragebogen und anhand von Einzelfallstudien zu belegen. Im Folgenden geht man von einer neurotischen Persönlichkeitsstruktur des Stotternden aus. Aufgrund vergleichender Untersuchungen wurde jedoch festgestellt, daß neurotisches Verhalten bei stotternden Menschen nicht häufiger auftritt als bei nichtstotternden. Es ist also heute nicht belegbar, daß Konflikte bei Stotternden im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Zügen ihrer Persönlichkeit stehen.


2.3. Lerntheorien

Das Stottern wird hier als ein gelerntes Fehlverhalten interpretiert. Folgendes wird zugrundegelegt:

Konsistenzeffekt:

Es handelt sich hierbei um die Tendenz, in gleichen Situationen bei denselben Wörtern zu stottern.

Adaptationseffekt:

Es wurde festgestellt, daß sich das Stottern beim wiederholten Lesen eines Textes immer mehr verringert.

Weiterhin wurde beobachtet, daß erwachsene Stotternde voraussagen können, wann und wobei sie stottern werden.

Vertreter der Lerntheorien berufen sich auch auf die Ergebnisse umfangreicher Untersuchungen, wie sie erstmals von Johnson (1959) vorgelegt wurden. Dieser hat festgestellt, daß sich Kinder zu Beginn ihres Stotterns physisch und psychisch nicht von anderen Kindern unterscheiden. Vielmehr sind die Reaktionen der Umwelt auf die in der Sprachentwicklung auftretenden Störungen der Redeflüssigkeit von entscheidender Bedeutung. Wird hierbei überempfindlich reagiert und voreilig die Diagnose "Stottern" gefällt, so wird die Überwindung der entwicklungsbedingten Redeflußstörung enorm erschwert. Dem Kind wird hierbei die entwicklungsbedingte Unflüssigkeit beim Sprechen als Störung bewußt gemacht. Außerdem wird sich das Kind entsprechend den Erwartungen der Hörer, welche von einem Stotterer ausgehen, verhalten. Stottern wird somit zum Produkt des Interaktionsprozesses.

Ich denke, daß dieser Ansatz Beachtung finden sollte, wenn man davon ausgeht, daß jegliches Verhalten in der Gemeinschaft auch deren Erwartungen entspricht und somit einen Lerneffekt beinhaltet.

Allerdings lassen sich diese Lerntheorien nicht verallgemeinernd auf alle Stotterer anwenden. Stottern kann auch ohne die oben beschriebene Überreaktion auf die entwicklungsbedingte Redeflußstörung entstehen (vgl. Dalton/Hardcastle 1977). Das soll aber nicht heißen, daß die jeweilige Reaktion der Umwelt auf das Sprechverhalten eines Kindes von entscheidender Bedeutung ist.

Der Konsistenzeffekt ebenso wie der Adaptationseffekt konnte auch bei unflüssigem Sprechen nichtstotternder Kinder beobachtet werden (vgl. Bloodstein 1965). Hierbei handelt es sich allerdings nur um Auffälligkeiten, die sich erst unter bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen zum Stottern entwickeln können.


3. Vergleich der Modelle und komplexer Erklärungsversuch zur Verursachung des Stotterns

Betrachtet man die einzelnen Ansätze für sich, so muß festgestellt werden, daß bisher keine Forschungsrichtung eine allgemeingültige Erklärung für die Entstehung des Stotterns gefunden hat. Da es sich um eine komplexe Erscheinung handelt, bedarf diese auch einer komplexen Erklärung. Im weiteren Verlauf soll das Stottern als ein Syndrom betrachtet werden, an dessen Zustandekommen körperliche, seelische und interpersonelle Faktoren beteiligt sind. Abgesehen davon muß die individuell oft sehr unterschiedliche Ausprägung beachtet werden. So muß auch eine Stottertherapie immer individuell angepaßt werden und kann nur bedingt unter allgemeingültigen Kriterien erfolgen.

Ich will nun versuchen, einen komplexen Ansatz zur Entstehung des Stotterns näher zu erläutern.

Wie schon unter Punkt 2.3. erläutert, ist zu beobachten, daß das Stottern zumeist im Kindesalter seinen Ausgang nimmt. Hierbei spielt die Reaktion der Bezugspersonen des Kindes auf die entwicklungsbedingte sprachliche Auffälligkeit eine große Rolle. Diese Reaktion kann beim Kind, neben der Veränderung des Sprechverhaltens, auch Veränderungen des nonverbalen Kommunikationsverhaltens, des Sozialverhaltens, des Leistungsverhaltens und der Gefühle und Einstellungen gegenüber anderen und sich selbst bewirken. Dementsprechend verändern sich auch die Einstellungen und das Verhalten der Interaktionspartner gegenüber dem Kind. So ist die eigentliche Redeflußstörung nur die Äußerung für eine viel komplexere Kommunikationsstörung. Verfolgt man diesen Ansatz weiter, so kann man davon ausgehen, daß bestimmte Dispositionen zu Auffälligkeiten führen können, bzw. entwicklungs- oder situationsbedingte Auffälligkeiten manifestieren können, welche dann im Interaktionsprozeß zum Stottern führen können. Diese Dispositionen können im somatischen, psychischen und/oder sozialen Bereich bestehen.

Im weiteren sollen die maßgeblichen Auffälligkeiten, welche zur Entwicklung des Stotterns führen können, kurz beschrieben werden.

Die entwicklungsbedingte Sprechablaufstörung, welche ca. 80 bis 90 Prozent aller Kinder im 3. bis 5. Lebensjahr durchlaufen, ist das Ergebnis eines in diesem Alter ganz normalen Mißverhältnis zwischen Mitteilungsdrang und Mitteilungsfähigkeit. Es besteht ein Ungleichgewicht zwischen kognitiven und sprechmotorischen Fähigkeiten. Diese Auffälligkeit wird u.a. auch als physiologisches Stottern oder Entwicklungsstottern bezeichnet, da auch hier Laute, Silben oder Wörter wiederholt werden. Die Dauer dieser Auffälligkeit schwankt zwischen einigen Monaten und zwei Jahren. Verläuft die Entwicklung des Kindes in diesem Zeitraum ohne wesentliche Störungen im somatischen, psychischen und sozialen Bereich, so kann diese Auffälligkeit problemlos überwunden werden. Körperliche, sowie konstitutionelle und psychische, die Persönlichkeit des Kindes betreffende, Dispositionen können jedoch zu einer Verfestigung dieser Sprechablaufstörung führen. Dies kann im weiteren Verlauf Stottern zur Folge haben.

Auch die sozialen Faktoren (Erziehung und Umwelt) spielen eine entscheidende Rolle. Eine verfehlte Erziehung, sowie inadäquate Reaktionen aus der Umwelt, können beim Kind ein Störungsbewußtsein hervorrufen. Auch so kann es zu einer Manifestierung der entwicklungsbedingten Sprechablaufstörungen kommen.

Eine weitere Auffälligkeit im Sprechen, aus der sich Stottern entwickeln kann, ist das Poltern. Die Ursachen des Polterns sind heute noch nicht ausreichend geklärt. Schon vom Beginn der Sprachentwicklung an kann man hier ein schnelles, überstürztes Sprechen beobachten. Die Artikulation ist verwaschen und undeutlich. Es werden häufig Laute "verschluckt", besonders Endsilben. Weitere nichtsprachliche Auffälligkeiten sind häufig reduzierte Konzentrationsfähigkeit, eingeschränkte auditive und visuelle Wahrnehmungsspanne, grobmotorische Ungeschicklichkeit, feinmotorische Koordinationsprobleme, geringe Musikalität und geringes Rhythmusempfinden. Aufgrund dieser Eigenschaften geht man beim Poltern häufig von einer leichten geistigen Schwäche aus. Im Gegensatz zum Stotterer besteht kein Störungsbewußtsein. Mit besonderer Anstrengung kann der Polterer von sich aus sein Sprechen verbessern, wodurch auch ein höherer Therapieerfolg als beim Stottern gewährleistet ist.

Durch Sprachentwicklungsverzögerungen kann es zu Spracherwerbsstörungen kommen. Das auffällige Abweichen vom altersgemäßen Entwicklungsstand kann im Sprachverständnis und/oder in der Sprachproduktion erfolgen. Die Auffälligkeiten bestehen meist auf unterschiedlichen Spracherwerbsebenen (phonetisch-phonologische Ebene, semantisch-lexikalische Ebene, syntaktisch-morphologische Ebene). Oft ist das Sprechen für diese Kinder ein dauerndes Mißerfolgserlebnis. Sie reagieren dementsprechend sprachlich und allgemein verunsichert. Somit kann diese Auffälligkeit auch ein möglicher Ausgang einer Entwicklung zum Stottern sein.

Stotterähnliche Sprechablaufstörungen können bei fast allen Menschen unter bestimmten Bedingungen auftreten. Auslösende Bedingungen können Angst, Erregung, Erschrecken oder Ermüdung sein. Fallen diese Bedingungen weg bzw. ist die auslösende Situation beendet, so verschwindet auch die Sprechablaufstörung. Diese situativ bedingte Störung wird meist als Situationsstottern bezeichnet (Böhme, 1977). Bei Kindern, dessen Sprechfertigkeit noch nicht sehr gefestigt ist, treten solche situativen Sprechablaufstörungen häufiger auf als bei Erwachsenen. Allerdings kommt es nur selten zu einer Verfestigung einer durch eine Situation ausgelösten Auffälligkeit und somit auch kaum weiterführend zum Stottern. Als mögliche Entwicklungsgrundlage zum Stottern muß sie jedoch der Vollständigkeit halber erwähnt werden.

Auch aus einer Sprechablaufstörung als Ausdruck einer verunsicherten Persönlichkeit kann sich mitunter Stottern entwickeln. Die Auffälligkeit an sich ist jedoch keineswegs Ausdruck sprachlichen Unvermögens, sondern vielmehr durch die verunsicherte kindliche Persönlichkeit begründet. Die Gründe für eine verunsicherte Persönlichkeit sind sicherlich individuell unterschiedlich. Zu einer Äußerung kommt es oft auf der sprachlichen Ebene in einem selbstunsicheren Sprechverhalten. Kennzeichnend für diese Auffälligkeiten ist ein leises, zögerndes sprechen mit geringer stimmlicher Modulation, ein häufiges Versprechen und häufiges Abbrechen des Sprechverlaufs, das wiederholen von Wörtern und das Verwenden von Einschüben und Flickwörtern. Meist verstärken sich diese Störungen gegenüber fremden Personen und in Situationen, in denen vom Kind irgendwelche Leistungen erwartet werden.

Ich möchte nun etwas näher auf die maßgeblichen Dispositionen eingehen, welche den soeben beschriebenen Auffälligkeiten zugrunde liegen.

Somatische Ebene:

Schon geringe körperliche, sowie konstitutionelle Dispositionen, können zu Auffälligkeiten in der Sprache des Kindes führen. Somit kann es, muß aber nicht, zum Stottern kommen. Ausschlaggebend hierfür kann eine minimale Hirnschädigung sein, welche allerdings in den meisten Fällen nicht nachweisbar ist und somit nur vermutet werden kann. Leichte Hirntraumen, sowie Hirndurchblutungsstörungen dagegen manifestieren meist schon Sprachstörungen.

Auch eine verzögerte Reifung des zentralen Nervensystems oder eine nicht voll ausgeprägte Hemisphärendominanz können zu Auffälligkeiten führen. Eine gewisse Nervenschwäche und überhöhte Erregbarkeit sind dagegen mehr funktioneller Art. Das ein erhöhter Erregungszustand auf eine verminderte Hirnrindentätigkeit zurückzuführen ist, wurde von Seeman (1969) und Staecker u.a. (1982) vermutet.

Viel diskutiert wird auch eine vererbte Disposition. So kann eine angeborene familiäre Sprachgestaltungsschwäche zwar disponibel wirken, konnte aber bis heute nicht wissenschaftlich nachgewiesen werden.

Psychische Ebene:

Stottern ist, wenn auch in sehr unterschiedlichen Formen, immer das Resultat des Umgangs einer verunsicherten Persönlichkeit mit seiner Umwelt. Hierbei ist die psychische Stabilität einer Persönlichkeit (Selbstsicherheit, Selbstbewußtsein) von großer Bedeutung. Eine gestörte Persönlichkeit stellt eine Gefährdung zum Stottern dar. Zum Stottern selbst kommt es meist erst in Verbindung mit der Reaktion der Umwelt. Allerdings kann man auch davon ausgehen, daß eine schwache Nervenkonstitution in Situationen (situative Sprechablaufstörungen) erst zu Persönlichkeitsstörungen führt. Es besteht hier eine Wechselbeziehung.

Ist eine verunsicherte Persönlichkeit disponiert, so können entwicklungsbedingte sprachliche Auffälligkeiten (Poltern, Spracherwerbsstörung) zu einer weiteren Verunsicherung führen und sich somit manifestieren.

Stellt ein Kind überhöhte Ansprüche an sich selbst, so besteht auch die Gefahr, daß es diesen häufig nicht genügen kann. Es kommt schon bei geringen Mißerfolgen zu erheblichen Frustrationen. Meist liegt dem allerdings eine verfehlte Erziehungspraxis zugrunde. Als Folge kommt es dann zu den beschriebenen Persönlichkeitsmerkmalen. Auch die entwicklungsbedingte Sprechablaufstörung stellt für diese Kinder einen Mißerfolg dar. Sie empfinden ein erhöhtes Störungsbewußtsein und wollen ihr Sprechen unbedingt verbessern. Die überhöhte Konzentration auf die ganz normale Störung führt allerdings meist zu einer Verkrampfung und somit wiederum zu einer Verfestigung der Störung.

Soziale Ebene:

Der Erziehungsbereich, sowie Umwelteinflüsse stehen immer im Zusammenhang mit anderen Dispositionsbereichen. Eine für das Kind negative Reaktion aus der Umwelt kann aufgrund organischer Schwächen (Motorik, Hirnleistungsschwäche) erfolgen und somit zu Auffälligkeiten führen, welche sich zum Stottern entwickeln können. Eine verfehlte Erziehung kann aber auch an sich als Grundlage dienen, um psychische Störungen beim Kind hervorzurufen, welchen dann wieder im Stottern Ausdruck verliehen wird.

Somit kommt der sozialen Ebene in jedem Falle eine entscheidende Bedeutung zu. Man kann davon ausgehen, daß psychische, sowie organische und konstitutionelle Schwächen oder Beeinträchtigungen erst im Zusammenhang mit negativen sozialen Einflüssen eine Störung im Sprechverhalten zur Folge haben können.

Inadäquates Verhalten von Eltern und anderen Bezugspersonen gegenüber Kindern führt immer zur Verunsicherung des Kindes. Es fehlen meist Möglichkeiten zur Selbstentfaltung und Verantwortungsübernahme. Das Kind erfährt entweder zuviel oder zuwenig an Zuwendung und Bindung. Auch wechselhaftes, inkonsequentes, sowie überforderndes oder abwertendes Verhalten von Bezugspersonen gegenüber dem Kind schränken dessen Entwicklungsmöglichkeiten stark ein.

Wird ein Kind überfordert, entstehen Gefühle ständigen Leistungsdrucks. Dies führt dann häufiger zu Entmutigung und Frustration. Abwertendes Verhalten der Bezugspersonen gegenüber dem Kind dagegen ruft Gefühle der Minderwertigkeit hervor. Häufiges Wechseln von Erziehungsstilen und inkonsequentes Verhalten der Eltern gibt dem Kind nicht die nötige Sicherheit, die es zur Stabilisierung seiner Persönlichkeit benötigt. Erfährt das Kind zuwenig Zuwendung, so fehlen Rückhalt und Geborgenheit; das Kind fühlt sich ungeliebt und wertlos. Dagegen werden dem Kind bei einer überbehüteten Erziehung Möglichkeiten der Selbstentfaltung genommen. Die Entwicklung von Selbstbewußtsein und Selbstsicherheit wird erschwert.

Bei der Einbeziehung von sozialen Faktoren als Dispositionsgrundlage zur Stotterverursachung muß immer die gesamte familiäre Situation betrachtet werden. Für das inadäquate Verhalten der Bezugspersonen gegenüber dem Kind kann hier meist eine Erklärung erfolgen. So können eine unbewußte Nichtannahme des Kindes, Schuldgefühle oder erzieherische Versagensängste einen Ausgangspunkt darstellen. Das Verhalten kann aber auch Ausdruck partnerschaftlicher Konflikte sein. In diesem Zusammenhang sind finanzielle Probleme, Arbeitslosigkeit, Wohnprobleme und andere Belastungen zu nennen.

Vorhandene ungünstige Erziehungseinflüsse wirken jedoch keineswegs nur disponierend, sondern erhöhen nach dem Auftreten von Auffälligkeiten weiterhin das Risiko der Entwicklung zum Stottern. Auch wenn das Stottern als Ausdruck einer umfassenden Kommunikationsstörung vorhanden ist, sind soziale Faktoren bei einer weiteren Verfestigung oder auch erfolgreichen Therapie von entscheidender Bedeutung.


4. Zusammenfassung

Stottern ist eine umfassende Kommunikationsbehinderung, an welcher der Stotterer und seine Interaktionspartner beteiligt sind.

Entstehung, Aufrechterhaltung und Veränderung des Stotterns sind weitgehend von interaktionellen Einflüssen gesteuert. Werden dem Kind im Interaktionsprozeß Auffälligkeiten, entwicklungsbedingter Art oder durch bestimmte Dispositionen begünstigt, bewußt gemacht, so besteht die Gefahr der Verunsicherung. Die Bezugspersonen konzentrieren sich hierbei mehr auf die Form des Gesagten als auf Inhalt und Intention. Besteht nun beim Kind ein Störungsbewußtsein, so versucht es, die noch normalen Sprechablaufstörungen zu verhindern. Es kommt zu Verkrampfungen,die diese Versuche mißlingen lassen und die Störung manifestieren. Bei jedem Sprechakt erwartet nun das Kind angstvoll dessen mißlingen. Die Eltern, bzw. Bezugspersonen des Kindes fühlen sich nun oft in ihrer Diagnose einer pathologischen Sprechstörung bestätigt und verhalten sich dementsprechend im weiteren Interaktionsprozeß. Dies baut beim Kind neue Ängste auf, welche die Störung weiter verfestigen. Hieraus kann sich Stottern entwickeln. Es handelt sich also um einen Kreislauf, aus dem das Kind aus eigener Kraft nicht ausbrechen kann.

Neben negativen Reaktionen auf eine Sprechstörung kann es auch zu positiven Reaktionen für das Kind kommen. Man spricht hier von einem "Krankheitsgewinn". Das Kind "pflegt" in diesem Falle seine Sprechstörung, um gewisse Vorteile daraus zu ziehen (z.B.: Befreiung von Aufgaben, Vermeidung von Strafen, Vermehrte Zuwendung, Entschuldigung für schlechte Leistungen, Verwöhnung). Zu einem bestimmten Zeitpunkt hat sich aber auch hier die Sprechstörung so verfestigt, so daß sie aus eigener Kraft nicht mehr überwunden werden kann.

Die entsprechenden Dispositionen, aufgrund derer es zu Auffälligkeiten beim Sprechen kommen kann, sind als Grundvoraussetzungen für eine spätere Entwicklung zum Stottern zu sehen. Hierbei sind allgemeine entwicklungsbedingte Dispositionen in der normalen Sprachentwicklung, sowie individuelle Dispositionen von Bedeutung.

Die individuellen Dispositionen können im organisch-konstitutionellen, psychischen und sozialen Bereich bestehen. Der soziale Bereich spielt hierbei immer eine Rolle. Eine Beschränkung nur auf somatogene Faktoren ist somit nicht möglich. Auch die Psyche des Kindes ist immer mitbetroffen.

Das Geschlecht an sich kann nur sehr bedingt schon als Disposition gelten, auch wenn 4 x mehr Jungen als Mädchen sich zu Stotterern entwickeln.

Auch unter ungünstigen Bedingungen muß es allerdings nicht zwangsläufig zum Stottern kommen. Es besteht immer nur die Möglichkeit der Stotterentwicklung. Bestimmte Voraussetzungen in Verbindung mit bestimmten Bedingungen können die Entwicklung jedoch begünstigen. Stottern entwickelt sich dann als Konfliktlösungsversuch des Kindes.

In jedem Fall ist auch die Situation, in welcher Stottern erfolgt, von Bedeutung. In entspannten, ausgeglichenen Situationen wird meist in einem geringeren Maße oder überhaupt nicht gestottert als in ungünstigen Situationen, in welchen der Stotterer z.B. unter Leistungsdruck steht oder Ermüdungserscheinungen aufweist. Dennoch sollten, auch innerhalb einer Therapie, nicht nur günstige Situationen für den Stotterer geschaffen werden. Gerade hier sollte jedes Therapieprogramm auch die Stabilisierung der Persönlichkeit enthalten.

Gerade bei sprachschwachen und ängstlichen Kindern ist es von besonderer Bedeutung, daß die Sprechfreude erhalten und gefördert wird. Die Sprache des Kindes muß sich aus der Motivation, Sprache als Kommunikationsmittel einsetzen zu wollen, entwickeln. Hierbei muß das Kind in erster Linie von sich heraus Anstrengungen unternehmen, sein Sprechverhalten zu profilieren. Hilfe aus der Umwelt ist zwar notwendig, sollte aber für das Kind weitestgehend unbewußt erfolgen, um keine Verunsicherung zu erzeugen.


5. Literaturverzeichnis

"Sprachheilpädagogische Praxis", Herausgeber: Hannes Aschenbrenner und Karl Rieder, Verlag Jugend und Volk (Wien), Diesterweg (Frankfurt / M.), Sauerländer (Aarau), 1990.

"Pädagogik der Sprachbehinderten", Herausgeber: Gerda Knura und Berthold Neumann, in:'Handbuch der Sonderpädagogik', 2. Auflage, Carl Marhold Verlagsbuchhandlung, Berlin, 1982.

Böhme, Gerhard: "Klinik der Sprach-, Sprech- und Stimmstörungen", Band 2, Gustav Fischer Verlag, Stuttgart und New York, 1983.

Böhme, Gerhard: "Das Stotter-Syndrom - Ätiologie, Diagnostik und Therapie", in: 'Arbeiten zur Theorie und Praxis der Rehabilitation in Medizin, Psychologie und Sonderpädagogik 17', Verlag Hans Huber, Bern, Stuttgart, Wien, 1977.

Becker, Klaus-Peter u.a.: "Stottern", Verlag Volk und Gesundheit, Berlin, 1988.

Becker, Klaus-Peter u.a.: "Lehrbuch der Logopädie", Verlag Volk und Gesundheit, Berlin, 1975.


Oertle, Horst u.a.: "Kommunikation zwischen Partnern - Stottern", Schriftenreihe der Bundesarbeitsgemeinschaft 'Hilfe für Behinderte' Band 244, Düsseldorf, 1989.